Wildwechsel
Ein asphaltierter Parkplatz um einen flachen Zweckbau herum. Drinnen gibt es Zahnpasta, Grillkohle, Sonnenschirme, Milch, und abgepackte Salami. Es ist noch früh, nur wenige Autos sind abgestellt. In einer leeren Parklücke hockt ein Kiebitz. Es ist März, Brutzeit. Ist dieses männliche Exemplar von Vanellus Vanellus desorientiert? Sollte es nicht um diese Jahreszeit in einer Wiese mit seinem Körper kleine Mulden drücken und mit Gräsern, Halmen und Blättern polstern, damit das Weibchen in einem dieser Nestvorschläge die Eier ablegen könnte? Früher wurden Kiebitzeier gegessen, das ist jetzt natürlich verboten - der Zugvogel zählt zur Liste der weltweit vom Aussterben bedrohten Vogelarten, obwohl sein Vorkommen von England und Irland im Westen bis nach Ostsibirien beobachtet wird. Was also will er in einer mitteldeutschen Parklücke? Kiebitze kehren zum Brüten an den eigenen Geburtsort zurück. Der Vogel hatte sich auch nicht im Flugziel geirrt. Bloß ist da seit neuestem keine Wiese mehr.
Eine Autobahn führt zwischen landwirtschaftlichen Nutzflächen hindurch. Der Verkehr fließt. In der Dämmerung springt ein Reh aus dem Feldgehölz auf die Bahn. Der Motorradfahrer kann nicht mehr bremsen oder ausweichen, er stirbt. Gewöhnlich bleibt Wild vor solchen Barrieren zurück. Der Mauerstreifen an der deutsch-deutschen Grenze definierte das Habitat verschiedener Rudel so nachhaltig, dass die Tiere noch Jahre nach dem Abbau der Anlagen die unsichtbar gewordene Grenze nicht überschritten. Was also war geschehen? Spaziergänger in der Abenddämmerung hatten ihren Hund von der Leine gelassen, er stöberte das erschrockene Tier im Gehölz auf. In Panik flüchtete das Reh und sprang in die einzige Richtung, die ihm blieb.
Unsere Eingriffe in die Natur sind mannigfaltig. An erstaunlich viele dieser Veränderungen gewöhnen sich die Wildtiere. Aber nicht mit allen Folgen unseres Tun wird die Natur gut fertig. Die Diskussionen über sinnvolle Maßnahmen zum Naturschutz werden immer komplexer, zuviele einander zum Teil entgegengesetzte Interessen werden in dem dicht besiedelten Psychotop Deutschland geltend gemacht. Förster verlangen nach einer intensiveren Bejagung des Wildes, um die Naturverjüngung des Waldes zu gewährleisten, Bauern tricksen mit den Ausgleichsflächen, die sie schaffen müssen, Naturschützer fordern, den Wald sich selbst zu überlassen und verurteilen die Forstwirtschaft, Schäfer fühlen sich angesichts der Bedrohung durch den Wolf von der Politik alleingelassen, Jäger wehren sich gegen erhöhte Abschussquoten. Bei vielen geglückten Artenschutzmaßnahmen aber sind Landwirte, Jäger und Naturschützer einig. Was wenige wissen ist, wieviel der Arbeit des Jägers nicht den Tod eines Tieres, sondern seinen Schutz und seine Bestandssicherung zum Ziel hat. Ungezählte späte Abende und frühe Morgen vor Sonnenaufgang verbringen Jäger damit, Tiere zu beobachten und zu zählen, ihnen Wildkräuterwiesen auszusäen, Mäuseburgen und Raubvogeltische zu bauen, oder Feuchtbiotope anzulegen. In jedem Monat steht eine andere Tierart im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Jäger. Hege und Pflege sind das Thema meiner seit Mai monatlich erscheinenden neuen Serie „Wildwechsel“ in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Mein Dank gilt dem Leiter der Landesjagdschule Rheinland-Pfalz, Wildmeister und Akademischer Jagdwirt Christoph Hildebrandt für die Unterstützung.